191. Ingeborg Bachmann an Paul Celan, Zürich, nach dem 27.9. 1961, nicht abgesandt

Lieber Paul,
vor wenigen Minuten haben wir telefoniert – lass mich aber trotzdem auf Deinem Brief zuerst die Antwort versuchen. Ich weiss nicht, ob es Missverständnisse sind, die zwischen uns getreten sind oder etwas, das einer Aufklärung bedarf. Ich empfinde es anders: Einbrüche von Schweigen, ein Ausbleiben von den einfachsten Reaktionen, etwas, das mich hilflos macht, weil ich nur Vermutungen anstellen kann, mit denen ich mich verirren muss, und dann höre ich wieder von Dir, wie jetzt, höre, wie schlecht es Dir geht, und bleibe so hilflos wie in dem Schweigen und weiss nicht, wie herausfinden und wie ich jemals wieder lebhaft und lebendig werden kann Dir gegenüber.  Manchmal weiss ich auch die Gründe sehr deutlich, eine paar Dinge, Vorkommnisse aus der schlimmen Zeit im vergangenen Jahr, die ich nicht verstehe, auch heute noch nicht und die ich mich zu vergessen bemühe, weil ich sie nicht wahrhaben will, weil ich nicht möchte, dass Du sie getan, gesagt, geschrieben hast.  Auch jetzt bin ich wieder erschrocken, als Du am Telefon mir sagtest, Du hättest Abbitte zu tun für etwas, ich weiss ja nicht, was Du damit meinst, aber mir ist schon wieder bang, weniger weil mich wieder etwas bitter machen könnte, als weil ich spüre, wie mutlos es mich zur Freundschaft macht, in einer, die hinausgeht über Mitgefühl und die Wünsche, dass sich zu wenig und sie müssen es ja auch für Dich sein.

Lieber Paul, das ist nun vielleicht wieder nicht die richtige Zeit, um einiges zu sagen, was sich schwer sagen lässt, aber es gibt ja die richtige Zeit nicht, sonst hätte ich es schon einmal über mich bringen müssen. Ich glaube wirklich, dass das grössere Unglück in Dir selbst ist. Das Erbärmliche, das von aussen kommt – und Du brauchst mir nicht zu versichern, dass es wahr ist, denn ich weiss es ja zu grossen Teil – ist zwar vergiftend, aber es ist zu überstehen, es muss zu überstehen sein.  Es kann jetzt nur von Dir abhängen, ihm richtig zu begegnen, Du siehst ja, dass alle Erklärungen, jedes Eintreten, so richtig es auch gewesen sein mag, in Dir das Unglück nicht verringert hat, wenn ich Dich sprechen höre, kommt es mir vor, als sei alles wie es vor einem Jahr war, als gelte es Dir nichts, was dass viele Menschen sich bemüht haben, als gelte nur das andere, der Schmutz, das Hämische, die Torheit. Du verlierst auch Freunde, weil die Menschen fühlen, daß es Dir weniger gilt, daß auch ihr Widerspruch nicht gilt, wo er ihnen vonnöten scheint. Der Widerspruch fällt leicht unglücklicher aus als das Einverständnis, aber nützlicher ist er manchmal doch, und seis auch nur, daß man für sich selber danach besser herausfindet, als die anderen, wo der Fehler liegt. Aber lassen wir die anderen.

Von den vielen Ungerechtigkeiten und Beleidigungen, denen ich bisher ausgesetzt [war,] sind mir am schlimmsten immer die Du mir zugefügt hast – auch weil ich sie nicht mir Verachtung oder Gleichgültigkeit beantworten kann, weil ich mich nicht schützen kann dagegen, weil mein Gefühl für Dich immer zu stark bleibt und mich wehrlos macht. Gewiss handelt es sich für Dich jetzt in erster Linie um andere Dinge, um Deine Nöte, aber für [mich], damit es sich um sie handeln kann, in erster Linie um unsere Beziehung, damit das andere diskutierbar wird. Du sagst, Du möchtest uns nicht verlieren, und ich übersetze es mir in “Dich nicht verlieren”, weil diese oberflächliche Beziehung zu Max – ohne mich hättet Ihr Euch wahrscheinlich nie kennengelernt – also sagen wir doch ehrlich, um einander nicht zu verlieren. Und ich frage mich eben, wer bin ich für Dich, wer nach soviel Jahren? Ein Phantom, oder eine Wirklichkeit, die einem Phantom nicht mehr entspricht. Denn für mich ist viel geschehen und ich möchte der sein, der ich bin, heute, und nimmst Du mich heute wahr?  Das eben weiß ich nicht, und das macht mich verzweifelt.  Eine Weile, nach unserem Wiedersehen in Wuppertal habe ich geglaubt an dieses Heute, ich habe Dich, Du mich bestätigt in einem neuen Leben, so kam es mir vor, ich habe Dich angenommen, nicht nur mit Giséle sondern auch mit neuen Bewegungen, neuen Leiden und Glücksmöglichkeiten die für Dich nach unserer Zeit gekommen sind.

Du hast mich einmal gefragt, was ich von der Kritik von Blöckner halte.  Jetzt gratulierst Du mir zu meinem buch, bzw. Büchern, und ich weiß nicht, ob da die Blöckerkritik eingeschlossen ist, die andern Kritiken alle, oder meinst Du, dass ein Satz gegen Dich mehr bedeutet als dreissig Sätze gegen mich?  Meinst Du es wirklich?  Und meinst Du wirklich daß ein Blatt, das gegen mich hetzt, seit es besteht, das Forum z.B daher seine Rechtfertigung bezieht, dass es sich, zu Deiner Verteidigung herbeilässt?  Lieber, ich beklage mich sonst nie gegenüber jemand, über die Gemeinheiten aber mir fallen sie ein, wenn die Leute, die dieser Gemeinheiten fähig sind, plötzlich sich auf Dich berufen.  Du mußt mich nicht missverstehen.

Ich kann alles überstehen durch Gleichmütigkeit, durch einen gelegentlichen Anfall im schlimmsten Fall.  Es fiele mir nicht ein, mich an jemand zu wenden, um Hilfe, auch nicht an Dich, weil ich mich stärker fühle.

Ich beklage mich nicht.  Ich habe, ohne es zu wissen, gewußt, daß dieser Weg, den ich einschlagen wollte, eingeschlagen habe, nicht mit Rosen eingefaßt sein würde.

Du sagst, man verleide Die Deine Uebersetzungen.  Lieber Paul, das war vielleicht das einzige, dass ich ein wenig angezweifelt habe, ich meine nicht Deine Berichte, sondern ihre Auswirkungen, aber ich glaube Dir jetzt vollkommen, denn ich habe nun die Bösartigkeit der professionellen Uebersetzer auch zu spüren zu bekommen, mit deren Einmischung ich auch nicht rechnete.  Man macht sich einen Witz daraus, über meine angeblichen Fehler zu sprechen, Leute, die was mich nicht kränken würde, schlechter Italienisch können und andre, die es vielleicht besser können, aber jedenfalls Leute, die keine Ahnung haben, wie ein Gedicht im Deutschen aussehen sollte.  Verstehst Du: ich glaube Dir, alles, alles.  Nur glaube ich nicht, dass sich der Klatsch, die Kritik, auf Dich beschränken, denn ich könnte ebensogut des Glaubens sein, dass sie sich auf mich beschränken.  Und ich könnte Dir beweisen, wie Du mir beweisen kannst, dass es so ist.

Was ich nicht kann: es Dir ganz beweisen, weil ich die anonymen und andren Papierfetzen wegwerfe, weil ich glaube, dass ich stärker bin als diese Fetzen, und ich will, dass du stärker bist, als diese Fetzen, die nichts, nichts besagen.

Aber das willst du nicht wahrhaben, dass dies nichts besagt, du willst, dass es stärker ist, du willst Dich begraben lasen darunter.

Das ist Dein Unglück, das Dir widerfährt.  Du willst das Opfer sein, aber es liegt an Dir, es nicht zu sein, und ich muss denken an das Buch, das Szondi schrieb, an das Motto, das mich getroffen hat weil ich nicht anders konnte, als an Dich denken.  Geiß, es wird, es kommt, es wird jetzt von außen kommen, aber Du sanktionierst es.  Und es ist die Frage ob Du es sanktionierst, es annimmst.  Aber das ist dann Deine Geschichte und das wird nicht meine Geschichte sein, wenn Du Dich überwältigen lässt davon.  Wenn Du eingehst darauf.  Du gehst darauf ein.  Das nehme ich Dir übel.  Du gehst darauf ein, und gibst ihm dadurch den Weg frei.  Du willst der sein, der dran zuschanden wird, aber ich kann das nicht gutheißen, denn Du kannst es ändern.   Du willst, dass die Schuld haben an Dir, und das werde ich nicht hindern können, dass [Du] es willst.  Verstehst Du mich einmal, von [unleserliches Wort] aus: ich glaube nicht, dass die Welt sich ändern kann, aber wir können es und ich wünsche, dass Du es kannst.  Hier setze den Hebel an.  Nicht der “Strassenfeger” kann es weg[fegen,] sondern Du kannst es, Du allein.  du wirst sagen, ich verlange zuviel von Dir für Dich.  Das tue ich auch. (Aber ich verlange es auch von mir für mich, darum wage ich es, Dir das zu sagen).  Man kann nichts anders verlangen.  Ich werde es nicht ganz erfüllen können, aber auf dem Weg zu dieser Erfüllung wird vieles wegfallen.

Ich bin oft sehr bitter, wenn ich an Dich denke, und manchmal verzeihe ich mir nicht, dass ich Dich nicht hasse, für dieses Gedicht, diese Mordbeschuldigung, die Du geschrieben hast.  Hat  Dich je ein Mensch, den Du liebst, des Mordes beschuldigt, ein Unschuldiger?  Ich hasse Dich nicht, das Wahnsinnige, jedoch wenn je etwas gerad und gut werden soll: dann versuch auch hier anzufangen, mir zu antworten, nicht mit Antwort, keine Entschuldigung, weil keine Entschuldigung ausreicht und ich sie auch nicht annehmen könnte.  Ich erwarte, dass Du, [indem] Du mir hilfst, Dir selbst hilfst, Du Dir.

Ich habe Dir gesagt, dass du es sehr leicht hast mit mir, aber so wahr das ist — es ist auch wahr, dass Du es schwerer haben wirst mit mir als mit irgendeinem anderen.  Ich bin glücklich, wenn Du auf mich zukommst im Hôtel du Louvre, wenn du heiter und befreist bist, ich vergesse alles und bin froh, dass Du heiter bist, dass Du es sein kannst.  Ich denke viel an Giséle, wenn es mir auch nicht gegeben ist, das sehr laut werden zu lassen, am wenigsten ihr gegenüber, aber ich denke wirklich an sie und bewundre sie für eine Größe und Standhaftigkeit, die Du nicht hast.  Das musst Du mir nun verzeihen: aber ich glaube, dass ihre Selbstverleugnung, ihr schöner Stolz und ihr dulden vor mir mehr sind, als Dein Klagen.

Du genügst ihr in Deinem Unglück, aber Dir würde sie nie in einem Unglück genügen.  Ich verlange, dass ein Mann genug hat an der Bestätigung durch mich, aber Du billigst ihr das nicht zu, welche Ungerechtigkeit.

Excerpted from HERZZEIT with the kind permission of Suhrkamp Verlag. We repeat the spelling adopted by the publisher, that of the Rechtschreibreform of 1996.